I. Zuhören. Die stille Revolution.
Der Anfang
Als meine Freunde noch zu klein waren, um sich mit mir die Zeit um die Ohren zu schlagen, musste mein ältester Bruder Christoph nicht selten in den sauren Apfel beißen, das zu tun, was heute die KITAS erledigen - sich kümmern. Den heutigen Stellenwert seiner Aufgabe erfährt man, wenn man den Fernseher anmacht, junge Eltern fühlen sich alleine gelassen, unsere Kinder haben zu viel Zeit. Was ist Hobby, was systemrelevant, der Alltag entgleist. Das mit dem Kümmern wird immer dicker, verfolgt uns bis in das Alter. Ich hatte sechs Brüder und zwei Schwestern, alle älter als ich, meine Eltern hatten ein Geschäft. Eine aufregende Zeit. Im Schatten der Hobbys wurde ich schon mal an Bäume gebunden und verantwortlich fixiert. Kreativ zu sein hieß, vertraute Freiräume zu schaffen und zu teilen, kostbare Zeit.
„So jetzt reicht es hier, die ganze Bagage geht jetzt mal an die frische Luft.“ Mit diesem Satz schickte meine Mutter uns Zuhause vor die Tür. Das was, wie und eigentlich auch das wo, überließ sie unserer Fantasie, Beschäftigung muss gelernt werden. Aus meiner Erinnerung weiß ich noch genau, wie planlos sich die ersten Minuten zu einem nicht selten wunderbaren Nachmittag verdichteten.
Es ging um Raum, Spaß und dosierte Grenzübertritte. Freunde mit Lederbällen, viel Platz, Zugang zu Streichhölzern, Hämmern und Limonade waren in unserem System „relevant“, das hatte Potential und sorgte für Freude und Freunde. Unser Leben fing sich an zu sortieren, Grammatik und Rechnen waren noch nicht die maßgeblichen Kriterien, es zu sein, ohne es zu müssen, das war die Diagnose der Kindheit. Diese scheinbare Leichtigkeit konnte auch zu einer Schlangengrube werden, Zuhause und warmer Kakao waren dann wieder fester Boden unter den Füßen.
Wir ströpten durch die Gärten, Wälder und Wiesen und spielten uns in die Aufmerksamkeit des Dorfes. Zu tun haben und ausprobieren. Erfahrung wurde gesammelt, kaputte Knie zeugten vom Wagen und Scheitern. Müssen, Dürfen und Können wollen gelernt sein.
Dieser trübe Blick aus dem Fenster, Regen und Ferien, eine Mutter die tut, dich machen lässt, weil gemacht werden muss und keine bequemen Zugeständnisse, wie Fernsehen und Süßes, diesem Moment die Dringlichkeit stehlen dürfen. Diese Hürde muss genommen werden, es treibt dich in den Wald der Langeweile, zu dir selbst und aus einem Stück Holz wird ein Ufo. Mittagessen.
Meine größte Sorge als Jüngster in unserem großen Haus, war der Moment der Stille, Sonntagabend, alles fuhr zu den anderen Orten, meine Geschwister verteilten sich irgendwann wieder in die Städte. Allein und den Montag vor Augen prägte meinen tiefen Wunsch, im Leben etwas zu machen, was mich auf den Wochenanfang freuen lässt, keine Angst vor der kleinen Einsamkeit zu haben, Gesellschaft zu pflegen.
Auch im Dorf war die Abwechslung und der überraschende Besuch eine besonderer Genuss. Diese Stimmung, die in der Luft lag, wenn was anstand, sich allgemeine Freude in übertriebenen Aktionismus verstrickte. Es wurde gefegt, man wurde albern und die Spannung stieg. Die Kirmes im Dorf, das fahrende Volk, dieser muntere Auflauf von Menschen und Schaugeschäften ließ mein Herz so in die Höhe hüpfen, dass ich es in meinem Zimmer selber baute, es auf kleine Anhänger verlud und über Nacht durch die Zimmer meiner Geschwister fuhr - sie waren ja woanders, Geselligkeit beginnt im Kopf.
Diese lebendigen Wochenenden, wenn alle Zuhause waren und auch manchmal ein paar mehr, verwirbelten die Erlebnisse aller, es gab reichlich zu erzählen, kleine Scharmützel und Üppiges aus der kleinen Küche. Das Essen und Reden prägte unser Familienleben, diese Turbolenz war mir heilig und ich spürte auch den unausgesprochenen tiefen Genuss meiner Eltern. Es wurde soviel erzählt, gelacht und auch mal rumgeschrien, dass der Flur dröhnte. Meine Ohren konnten nicht genug davon bekommen.
Musik sollte es werden, Resonanz und Teilhabe erklären diesen Zustand am besten. Es passierte, wenn man sich traf und so ging man auch wieder auseinander, um sich auf das nächste Mal zu freuen. Unsere wunderbare Absichtslosigkeit, dieser Blick aus dem Fenster, unterschiedlichste Begegnungen, die Geduld unserer Eltern, der Geschwister, Freunde, des Dorfes, aus dieser vertrauten Welt ergab sich der Grundstein für unsere gemeinsame Geschichte. Vielleicht ist die Langeweile die Libido der Ideen, die Kontroverse, der Reiz und das gemeinsame Fließen, die Entzündung zu Neuem.
Optimismus ist das eigentliche Gold unserer Tage, es lässt uns an was glauben, treibt den Mut und sorgt für Veränderung.
Hier auf dem Land kontrolliert man gerne die Euphorie, keiner soll durchbrennen, zu viel wollen, das Träumen kann gefährlich sein, das Geradeaus wird über „Bande“ gespielt. Glück gehört nicht in den Vorgarten, da posiert der Fleiss und die Ordnung, eine triste Normalität ist die beste Verkleidung. Was wir sichtbar machen, ist eine Information, mit der wir immer geschickter zu Werke gehen, es hat Macht und trägt gewöhnlich. Dieses dosierte und kalkulierte Handeln wirkt dem Vertrauen zuwider, verschließt unsere Offenheit und beschränkt die Ehrlichkeit. Der Slalom entwickelt neue Sichtweisen und Wege, eine solide Form der Diplomatie.
„Naiv denkt der Zyniker und belächelt das Glück der Anderen.“
Es braucht Jahre, bis man versteht, dass der Alltag die Leinwand deines Lebens ist und alles, was dort zusammen findet, passiert sein wird. Der Umgang mit dem grünen Rasen oder dem tosenden Meer hängt auch mit deinen Fragen und Antworten zusammen. Deine Kindheit grundiert das Bild und deine Träume skizzieren in groben Zügen das, was dann hinterher als Ganzes sichtbar bleiben wird. Rituale und Traditionen geben den Rahmen, die Farben entspringen deinem Gemüt und ob am Ende ein stolzer Protagonist dir vom weißen Pferd in die Augen schaut, ein warmes Stillleben oder ein großes buntes Durcheinander zueinander findet, wird sich dann zeigen.
Zum guten Schluss ist es wichtig, dass dieses Bild dir selber gefällt, du es bestenfalls auf andere Bilder schaffst, sowie dass auf deinem kein einsames Portrait zurück bleibt.
Dein Interesse, der Mut und das Abklopfen der Möglichkeiten führen die Fähigkeiten zu Tage, die sich potenzieren, indem man die der Anderen akzeptiert. Geduldige Beobachtungen und gewonnene Erkenntnisse schaffen übersichtliche Lebensräume, Fahren auf Sicht. Gewonnenes Vertrauen erlaubt komplexere Unternehmungen in Angriff zu nehmen, das Wagnis wird kalkulierbar. In den ersten Jahren ist dieser Prozess ein spielerischer, das Experimentieren und Scheitern stärkt sich durch eine stabile gemeinsame Schnittmenge, die sich aus dem Selbstverständnis der jungen Jahre entwickelt. Geld spielt in diesen Zeiten eine geringfügige Rolle, alles, was wir bis dahin bieten können, basiert auf Kontakten und Freundschaft. Als Jugendlicher stimuliert uns die Musik, ihre Stilrichtung gibt uns Drall und einen persönlichen Anstrich. Wir hörten Lieder, tanzten und küssten den Moment, fingen an, es alljährlich gemeinsam zuzubereiten. Es sollte nach unserem Dorf, unserem Zuhause schmecken, unverkennbar und mit einer großen Prise Neugierde auf den Rest der Welt.
Stefan Reichmann